Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Pioniere, Fanatiker und schräge Vögel«

von Barbara Wolfingseder

Um die Jahrhundertwende kam es zu Veränderungen im Bewusstsein der Menschen. Dies drückte sich in der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur und der Philosophie genauso aus wie im technischen Fortschritt und in der Politik.

Die Kirche verlor an Einfluss, Mystizismus, eine Weltanschauung mit neuen Werten, bewegte die Gesellschaft, aufkommender Nationalismus führte zu Auseinandersetzungen. Ganz Europa schwankte zwischen Dekadenz und der Suche nach dem Sinn des Lebens, zwischen Aufbruchsstimmung und Lebensüberdruss. Ein idealer Nährboden für Pioniere, für harmlose, aber auch weniger harmlose Sonderlinge. Karl Wilhelm Diefenbach – der »Kohlrabiapostel« von Ober-St.-Veit Im Advent 1891 zog eine merkwürdige Erscheinung durch die Innenstadt, die so manche Wiener in großes Erstaunen versetzte. Wallende Gewänder, langes Haar und Rauschebart, Sandalen an den Füßen: die Ähnlichkeit mit dem Propheten, dessen Geburtstag vor der Türe stand, war verblüffend. Ein Werbegag? Nur zum Teil, denn Diefenbach war immer so gekleidet, das gehörte zu seiner selbst erwählten Lebensaufgabe. Was er nicht wusste, war, dass er tatsächlich zu Werbezwecken nach Wien eingeladen worden war. Moriz Terke, der Direktor des Österreichischen Kunstvereins, wurde in München auf den Künstler aufmerksam. Der aus Hessen gebürtige Jesusverschnitt war in der bayrischen Hauptstadt kein Unbekannter mehr, allerdings weniger wegen seiner symbolistischen Gemälde als wegen seines seltsamen Auftretens und seiner eigenwilligen Lebensweise. Ziel des gewieften Direktors war, mittels des skandalumwitterten Eigenbrötlers den Kunstverein vor dem drohenden Bankrott zu bewahren. Terke verpflichtete ihn, innerhalb von 44 Tagen elf »Sensationsbilder« zu schaffen, die das Geschäft wieder ankurbeln sollten. Die Rechnung ging zumindest vorübergehend auf, denn im Februar 1892 wurde die Ausstellung eröffnet und brachte innerhalb von fünf Monaten 78 000 Besucher in das Haus auf der Tuchlauben 8. Karl Wilhelm Diefenbach kam 1851 als Sohn eines Zeichenlehrers zur Welt und studierte später an der »Königlich Bayerischen Akademie der bildenden Künste« in München. Aufgrund einer Typhuserkrankung musste er sich einer Operation unterziehen, die zur Folge hatte, dass er sein Leben lang den rechten Arm nicht ordentlich benützen konnte. Mühsam lernte er mit der linken Hand zu malen und zu schreiben, das Studium gab er auf. Die Krankheit löste einen einschneidenden Lebenswandel in ihm aus. Er begann sich für Naturheilmethoden zu interessieren, besuchte Vorträge eines evangelischen Theologen und lebte nach dessen Ideologien, weil er sich davon Heilung für Körper und Seele versprach. Nach einem Offenbarungs-Erlebnis in den bayrischen Alpen »legte er die Kutte eines Propheten an und ging fortan barfuß«. Er predigte den Verzicht auf Alkohol und Tabak, wetterte gegen den »Verzehr von Tierfetzen«, gegen das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Leben und propagierte die Abwendung von jedweder Religion. Ferner waren Bewegung an der frischen Luft und das programmatische Ausleben der Nacktheit sein Credo für eine ordentliche Lebensführung. In einem aufgelassenen Steinbruch im Isartal, wohin er sich mit seinen Anhängern und der Familie zurückzog, wurden »hüllenlose Sonnenbäder« gepflegt, die ihm den ersten Nudistenprozess in der deutschen Geschichte einbrachten. Ab Mitte 20 konnte er bereits als freischaffender Maler leben. Vor allem seine Silhouettenbilder »Göttliche Jugend« und »Per aspera ad astra« waren es, die ihn bekannt machten. Prominente Künstler und Schriftsteller, wie Egon Schiele oder Hermann Hesse, waren von ihm und seiner Weltanschauung fasziniert. Peter Rosegger würdigte ihn in einer Schrift mit dem Titel »Ein Sonderling und sein Werk«. Kunstvereinsdirektor Terke stellte sich leider als Betrüger heraus. Er veruntreute Gelder aus einem Darlehen, das mit Diefenbachs Bildern abgesichert war. Es kam zur Versteigerung von zehn Gemälden, von deren Erlös der Künstler nicht das Geringste erhielt. Vollkommen pleite musste er sich vorübergehend sogar obdachlos melden. Nach verschiedenen Stationen quartierte er sich 1897 mit seinen Kindern, Frauen – er hatte parallel mehrere Liebhaberinnen, da er das gängige Ehemodell verachtete – und Anhängern in einem aufgelassenen Gasthof »Auf den Himmeln«, am Hagenberg in Hietzing, ein. Der Spottname »Kohlrabi-Apostel« wurde ihm schon von den Münchnern verliehen, die Wiener bezeichneten nun sein Refugium in Ober-St.-Veit als »Paradeiser-Paradies«. Bald zählte die Kommune 26 Mitglieder, die den Künstler mit »Homo« oder »Meister« anzusprechen hatten. Er pflegte die Heranbildung idealer »Gottmenschen«, die zu diesem Behufe einen strikten Tagesablauf befolgen mussten. Zu grauer Morgenstunde hatten sich die Frauen und Männer von ihren harten Matratzen zu erheben, um ein kaltes Bad zu nehmen. Die Zimmer waren auch im Winter ungeheizt, die Fenster standen offen, geschlafen wurde nackt. Es wurde überhaupt viel nackt herumgehüpft, auch auf den Wiesen, die den »Himmelhof« umgaben. Nach einem Chorgesang ging es an die Arbeit, die entsprechend der jeweiligen Fähigkeiten eingeteilt wurde. Nebenbei musste stets für das Wohlergehen des Exzentrikers gesorgt und die eigenen Bedürfnisse hintangestellt werden. Alleinige Ausflüge in die Wiener Innenstadt wurden nicht gestattet, Briefe und Tagebücher von Diefenbach kontrolliert. Beim trauten abendlichen Beisammensein im Salon wurde gemeinsam musiziert und den Schriften Nietzsches gelauscht. Die »Untertanen« hatten den Messiasallüren stets mit Empathie zu begegnen. Gegen die Regeln verstoßen durfte ausschließlich er selber. Das konnte nicht lange gut gehen. Das Jahr 1898 war für den Kulturrebell und Heilsverkünder eine Herausforderung. Am Himmelhof war die Hölle los: Rivalitätskämpfe und Eifersüchteleien waren an der Tagesordnung und machten ihm schwer zu schaffen. Sogar Kindesmissbrauch wurde kolportiert. Diefenbachs minderjährige Tochter Stella hatte sich in seinen 18-jährigen Lieblingsjünger Paul von Spaun verliebt, der deshalb vor Gericht musste. Eine Ausstellung in der Seilergasse im Herbst 1898 wurde zum finanziellen Fiasko, der Meister wurde gepfändet und bekam ein Delogierungs-Einschreiben. Mittlerweile waren schon einige seiner Mitglieder abgesprungen und berichteten nur wenig Gutes über die Kommune. Die Zeitungen starteten eine regelrechte Hetzkampagne gegen den »Meister des Nichtstuns und Dochlebens«, der mit seiner »Narren-Gesellschaft« am Himmelhof einem »gemeingeführlichen Leben voll unsittlichem Treiben« nachgehen würde. Im Frühjahr 1899 verließ der streitbare Friedensapostel Wien, um sich in Capri eine neue Existenz aufzubauen. Sein Motto blieb nach wie vor: »Lieber sterben, als meine Ideale verleugnen!« Nach seinem Tod im Dezember 1913 gerieten Diefenbachs Werke in Vergessenheit. Erst in den 1960er- Jahren holte sein Enkel, Fridolin von Spaun, den Nachlass seines Großvaters aus dem Verborgenen und half bei der Entstehung der beiden Diefenbach Museen auf Capri und in dessen Heimatstadt Hadamar mit. In ­Hietzing erinnert eine Gasse an den Maler und Vorkämpfer der Lebensreform und Freikörperkultur. Florian Berndl – der »Narr« vom Gänsehäufel »Die Luft ist vollkommen staubfrei, die Wasserfläche ist wie ein weiter See. Die Insel besteht aus Weiden und Donausand. Es ist ein Labyrinth von Weiden, ein Urwald, ein Riesengeflechtwerk. Schützet diese Insel wie ein Lebensheiligtum, das Lebensenergien zubringt dem Leib des armen Städters«, beschreibt Peter Altenberg das Gänsehäufel. Entdeckt hatte das Naturjuwel der damals knapp 30-jährige Florian Berndl bei einer Wanderung durch die Donauauen. Der Masseur und Hühneraugenoperateur, der mit seiner Frau …

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