Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Die Weihe des Hauses«

über das Theater in der Josefstadt

von Johann Szegő

»Es war nicht viel besser als irgend eine vazierende Schmiere in Atzgersdorf, Oberhollabrunn oder Gloggnitz. Schon der Ein- und Zugang war nicht besonders einladend, er glich vielmehr dem Zugang zu irgend einem Schlupfwinkel.«

Im Jahre 1788 wurde in der Wiener Vorstadt Josefstadt ein Theater gegründet. Die erste Kritik (siehe oben) war niederschmetternd! Leider verriet der große Wiener Stadthistoriker Wilhelm Kisch in seinem Buch »Die alten Straßen und Plaetze Wiens« (Band XII., Wien 1895, Seite 509) mit keiner Silbe, von wem diese Kommentare stammten. Der Gründer des Theaters, Herr Karl Mayer, ein Wirtssohn aus Neulerchenfeld, wird sich ob dieser negativen Berichterstattung sicher geärgert haben (und sein Schwiegervater und Geldgeber, Herr Johann Michael Köck, erst recht)! Aber am 23. Februar 1791 stand etwas viel Erfreulicheres in der »Wiener Zeitung«: Kaiser Leopold  II. besuchte samt seiner Schwester Maria Karolina und seinem Schwager Ferdinand, König beider Sizilien, dieses Vorstadttheater. Außerdem erlaubte Leopold  II. dem Theater die Führung des Doppeladlers. 

Es ging langsam aufwärts! Das Theater konnte sogar umgebaut, modernisiert werden. Der größte Vertreter der Wiener Biedermeierarchitektur, Josef Kornhäusel, ging ans Werk. Seine Fähigkeiten als Theaterarchitekt hatte er bereits in Baden und in Hietzing bewiesen. Am 3. Oktober 1822 fand die Eröffnung des umgebauten Hauses statt. Musik durfte dabei auch nicht fehlen: Es erklang »Die Weihe des Hauses« – am Klavier saß der Komponist, kein Geringerer als Ludwig van Beethoven.

Zwölf Jahre später wurde ein Tanzsaal adaptiert: Die Sträußel-Säle. Diesmal sorgte der ältere Johann Strauss für die musikalische Berieselung – natürlich machte Josef Lanner auch mit.

Und die Schauspieler? Ein ehemaliger Zuckerbäcker-lehrling, der einst für den Tortentransport zuständig gewesen war, betrat eines Tages nach mäßigen Erfolgen auf diversen Provinzbühnen in Ungarn hier jene Bretter, die angeblich die Welt bedeuten: Ferdinand Raimund. Hier feierte er großartige Erfolge als Schauspieler und als Autor – und wurde vom Publikum gnadenlos ausgepfiffen, als er seinen Hochzeitstermin platzen ließ: Seine bereits schwangere Braut, der Pfarrer und die Hochzeitsgäste hatten vergeblich auf den Herrn Bräutigam gewartet! Im zweiten Versuch jedoch ging Raimund brav zur vorgesehenen Zeremonie, hauchte nolens volens das obligatorische Jawort, und aus Fräulein Gleich wurde erwartungsgemäß Frau Raimund. Erwähnt man Raimund, denkt man auch automatisch an seinen siamesischen Literaturzwilling: Johann Nestroy trat 1829 das erste Mal im Theater in der Josefstadt auf.

Außerdem debütierten hier zwei große Schauspielerinnen, die es auch zu Direktionsehren brachten (Direktorinnen im 19. Jahrhundert waren noch eine phantastische Sensation!): die einander spinnefeinden Marie Geistinger und Josefine Gallmeyer.

In den ersten 100 Jahren seines Bestehens verbrauchte das Theater in der Josefstadt 25 Direktoren! Unter Carl Carl und Franz Pokorny ging es abwärts. Sie führten auch andere Bühnen und ließen die besten Kräfte dort auftreten, die Josefstadt verkam zu einer Reservemannschaft. Unter dem Direktor Karl Blasel ging es wieder aufwärts! Das Theater feierte 1888 sein 100. Gründungsjubiläum. Die »Neue Freie Presse« brachte am 19. Oktober eine interessante Nachricht: »Der Kaiser hat heute den Director des Josephstädter Theaters, Herrn Blasel in Audienz empfangen und auf dessen Bitte seinen Besuch bei der Festvorstellung zur Feier des hundertjährigen Jubiläums des Josephstädter Theaters am 24. d. in Aussicht gestellt.« Also: Nach dem Urgroßvater (Leopold  II., 1791, siehe oben) wieder ein Kaiserbesuch! 1888 war das Theater kein Vorstadttheater mehr, die Josefstadt war bereits ein Wiener Bezirk, aber das Theater war kein Hoftheater, sondern ein Privatbetrieb: Der Besuch des Monarchen war eine große Ehre.

1899 übernahm Josef Jarno die Direktion des Hauses und blieb auf diesem Posten bis 1923. Er brachte Werke der damals modernen Autoren wie zum Beispiel Henrik Ibsen, Arthur Schnitzler, G. B. Shaw, August Strindberg und Anton Tschechow auf die Bühne, ihm ist auch die deutschsprachige Erstaufführung eines der größten Bühnenerfolge zu verdanken: Liliom (von Ferenc Molnár). Weiters sorgte Jarno für die »Vollbeschäftigung« des Publikums mit seinen »Literarischen Matineen«. 

Während Herr Jarno im 8. Bezirk ein Theater leitete, wurde 1910 im 1. Bezirk ein neues Theater eröffnet: die Residenzbühne. Sechs Jahre später wurde sie umbenannt. Als »Kammerspiele« arbeitet sie seit 1925 mit dem Theater in der Josefstadt zusammen. Ihre Zusammengehörigkeit wurde 2006 wiederum fixiert.

1923/24 wurde das Josefstädter Theater umgebaut. Die Kosten trug der Multimillionär Camillo Castiglioni, die Wiedereröffnung fand am 1. April 1924 bereits unter einem neuen Direktor statt: Max Reinhardt! Sein Porträt (und das Porträt des Hugo von Hofmannsthal) erblicken wir heute noch an der Hauptfassade. Das »Neue Wiener Journal« berichtete begeistert, listete die gesamte Prominenz auf, die nebst Bundespräsident Hainisch erschienen war, und lobte das »entzückende Haus«: »Es ist alles so alt und doch so neu« – pendelte ein Journalist zwischen Nostalgie und Gegenwartsrealität. Und über Reinhardt: »Der große Wegbereiter des Gegenwartstheaters hat jetzt in Wien die Wirkungsstätte, die er sich wünschte.« Nebenbei – diese Theaterkritik befand sich auf der dritten Seite. Auf der zweiten Seite stand mit viel größeren Buchstaben eine interessante Nachricht: In einem Berliner Strafprozess wurde der Deutschösterreicher Adolf Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt.

Aber kehren wir zu Max Reinhardt zurück. Unter seiner Ägide begann die große Karriere des späteren Hollywood-Regisseurs Otto Preminger. Max Reinhardt und Otto Preminger: Beide mussten vor den Nazis flüchten, um das nackte Leben zu retten. 

Von März bis Mai 1938 wirkte Robert Valberg als kommissarischer Leiter des Theaters, er erfüllte alle Wünsche der NS-Kulturverwaltung, er eskortierte sogar persönlich den im Sinne der Nürnberger Gesetze jüdischen Volkstheaterdirektor Rudolf Beer zur Gestapo (16 Tage später öffnete der schwer misshandelte Beer in seiner Wohnung den Gashahn). Valberg wurde von Heinz Hilpert abgelöst, er leitete das Theater bis 1945. Hilpert gehörte nicht zu den »Hundertprozenti-gen«, er versuchte sogar, einigen Verfolgten zu helfen. Als Reinhardt 1943 in der amerikanischen Emigration starb, sollen seine Josefstädter Getreuen eine geheime Trauerfeier für den vom NS-Regime verfemten Künstler veranstaltet haben.

Im Spätsommer 1944 wurde der Theaterbetrieb kriegsbedingt eingestellt. Am 1. Mai 1945 brachte das »Neue Österreich« folgende Nachricht: »Heute öffnet auch das Theater in der Josefstadt seine Pforten. Aufgeführt wird bei freiem Eintritt ›Hofrat Geiger‹«.

Langsam rutschen wir in unsere Zeit (oder in die Zeit unserer Eltern). Die einst »vazierende Schmiere« gehört seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Wiener Kulturinstitutionen. Warum wohl? Als der Schreiber dieser Zeilen den Fremdenführerkurs besucht hat (lang ist es her!), trug Herr Prof. Langer die Wiener Theatergeschichte vor. Ein Zitat von ihm ist unvergesslich: »Ins Volkstheater geht man wegen des Stückes, in die Josefstadt geht man wegen der Schauspieler.«

Lesen Sie bitte obigen Satz noch einmal! Ist er korrekt formuliert? Oder schlampig? Eindeutig schlampig! Was heißt »die Josefstadt«? Es handelt sich ja nicht um einen Wiener Bezirk, um die Josefstadt, sondern um das dort befindliche Theater!

Aber … wer sagt schon in Wien »Theater in der Josefstadt«? Man redet immer nur von der »Josefstadt« – und alle wissen, worum es sich handelt.

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