Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Die Kelsen-Verfassung von 1920«

von Marie-Sophie Iontcheva

Die Zeit nach dem Ende der Monarchie und der Ausrufung der Republik war turbulent und schwierig. Eine Grundlage für den jungen Staat war unbedingt notwendig.
Die Entwürfe von Hans Kelsen waren die Lösung..

Das Ringen um die neue Verfassung dauerte knapp zwei Jahre, doch in der öffentlichen Wahrnehmung gab es viel dringendere Probleme zu lösen. Diese waren durch die Ereignisse am Ende des Ersten Weltkrieges ausgelöst worden. Das »Völkermanifest« Kaiser Karls I. vom 16. Oktober 1918, das die Monarchie in einen Bundesstaat umwandeln sollte, um so deren Zerfall zu verhindern, bewirkte genau das Gegenteil. Durch den darin enthaltenen Aufruf, Nationalräte zu konstituieren, wurden die separatistischen Bewegungen in den Kronländern bestärkt, und das alte Staatsgebilde brach innerhalb weniger Tage zusammen. Bereits am 21. Oktober waren die deutschsprachigen Abgeordneten des letzten Reichsrats zur Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich in Wien zusammengekommen. Am 30. Oktober wurde die erste Regierung ernannt, am 11. November unterzeichnete Kaiser Karl I. in Schönbrunn den Verzicht auf jeglichen Anteil an den Staatsgeschäften. Dem war ein Ringen zwischen den politischen Kräften vorangegangen, denn die Sozialdemokraten traten vehement für eine Republik und somit für einen radikalen Bruch mit der alten Verfassung ein, während die Christlichsozialen zunächst am Kaiser als Institution festhielten. Am 12. November 1918 wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen. Im Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich erklärte man in Artikel 2, Teil der Deutschen Republik zu sein. Im Laufe des nächsten Jahres und aufgrund des Vertrags von Saint-Germain musste der Name auf Republik Österreich geändert werden, und das »Anschlussverbot« rückte den Traum von einer Vereinigung mit etwas Größerem außer Reichweite. Die junge Republik sah sich mit vielen Problemen konfrontiert: wirtschaftliche Not und damit verbundene Inflation, Schwierigkeiten mit der Sozialisierung heimkehrender traumatisierter und verstümmelter Soldaten sowie Angst ums Überleben eines Rumpfstaates. In dieser Situation verwundert es nicht, dass die Ausarbeitung der neuen Spielregeln für das staatliche Handeln in der Öffentlichkeit wenig diskutiert wurde. Politisch war man sich der Dringlichkeit bewusst.

Was regelt eine Verfassung?

So wie beispielsweise die Straßenverkehrsordnung das Verhalten der Verkehrsteilnehmer regeln und für Sicherheit sorgen soll, muss ein übergeordnetes Gesetz die Grundlage für die staatliche Legitimation als solche und die daraus ableitbaren staatlichen Aktionen bilden. Eine Verfassung ist der Bauplan des Staates. Sie legt die staatlichen Einrichtungen fest und definiert, auf welcher Basis staatliche Organe tätig werden dürfen. Das Zustandekommen der Regierung, die Kompetenzverteilung, der Aufbau der Verwaltung, die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative sowie die Kontrolle staatlichen Handelns werden in einer Verfassung geregelt. Zu den wichtigsten Bestandteilen einer Verfassung zählen die Grund- und Menschenrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat. Hierzu gehören unter anderem die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie die Gleichheit vor dem Gesetz oder das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums, um nur einige zu nennen. All diese Bestimmungen in einer Verfassung dienen der Rechtssicherheit und sollen staatliche Willkür verhindern. Eine besondere Facette dieser Sicherheit besteht in der Ausweitung des rechtsstaatlichen Prinzips um das Legalitätsprinzip: Der Staat darf nur aufgrund von Gesetzten tätig werden. Der Bürger hingegen darf alles tun, was ihm nicht durch ein Gesetz verboten ist.

Wer war Hans Kelsen?

Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag geboren. Seine Eltern waren deutschsprachige Juden und zogen 1885 nach Wien. Religion spielte in der Familie scheinbar keine große Rolle, denn der kleine Hans besuchte die Evangelische Schule in Wien, die damals einen besonders guten Ruf hatte. 1900 maturierte er im Akademischen Gymnasium. Hans Kelsen studierte Rechtswissenschaften in Wien und promovierte zum Dr. iur. im Jahr 1906. Experimentierfreudig konvertierte er 1905 zum Katholizismus und 1912 zur evangelischen Kirche. Seine Beweggründe waren nicht religiöser Natur, vielmehr ging es um Anpassung an die damals vorherrschenden Verhältnisse in Österreich. 1911 habilitierte sich Kelsen in Staatsrecht und Rechtsphilosophie mit der Arbeit »Hauptprobleme der Staatsrechtslehre«. Dieses Werk wurde zum Grundstein einer neuen wissenschaftlichen Rechtsbetrachtung, der sogenannten Reinen Rechtslehre. Nach einer Beratertätigkeit im Kriegsministerium und dem Abhalten von Vorträgen für die Wiener Volksbildung, wurde Kelsen 1918 als Professor und 1919 als ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an die Universität Wien berufen. Ebenfalls 1918 wurde er zum wissenschaftlichen Mitarbeiter der Staatskanzlei ernannt. 1919 bis 1920 prägte er die neue Verfassung Österreichs. Später als Richter am Verfassungsgerichtshof tätig, verließ Kelsen 1930 nach seiner Absetzung und wegen politischer Konflikte Wien. Nach einer Professur in Köln musste Hans Kelsen auch Deutschland 1933 Richtung Genf verlassen, und 1940 ging er in die USA. Lehrtätigkeit in Harvard und Berkeley und zahlreiche Publikationen im Bereich des Völkerrechts rundeten die wissenschaftliche Tätigkeit dieses Ausnahmejuristen ab. Hans Kelsen starb am 19. April 1973 in Berkeley. Die Uni Wien würdigte seine Verdienste mit der Enthüllung eines Denkmals im Arkadenhof des Hauptgebäudes am Ring …

Lesen Sie mehr über das Parlament und die österreichische Demokratie im gedruckten Magazin.

Titelseite der vierten Ausgabe mit dem Stephansdom
Inhaltsverzeichnis der vierten Ausgabe

Abo-Bestellformular