Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Der Meisterspion Oberst Alfred Redl«

von Johann Szegő

Am Hauptpostamt Wiens trafen vor dem Ersten Weltkrieg jahrelang postlagernde Briefe für einen gewissen Herrn Nikos Nizetas ein. Herr Nizetas kam immer brav, bestätigte den Erhalt des Briefes, steckte ihn ein – der Fall war erledigt.

Hieß er wirklich Nikos Nizetas? Niemand stellte diese Frage. Erwartete man Postlagerndes, musste ein Name angegeben werden, aber es wurde kein Ausweis verlangt. Eine praktische Lösung, zum Beispiel für außereheliche Kontakte!

Anfang 1913 kam wieder so ein Brief. Aufgegeben laut Poststempel in Eydtkuhnen in Deutschland, direkt an der russischen Grenze (heute: Tschernyschewskoje in Russland). Aber Herr Nizetas kam nicht, um den Brief zu übernehmen. Es war kein Absender angegeben – also: Brief zurück nach Eydtkuhnen, vielleicht finden die deutschen Postler den Absender.

Sie fanden ihn nicht. Aber sie öffneten den Brief und fanden 6.000,– Kronen, heutiger Kaufwert über 30.000,– €. Wien wurde natürlich sofort informiert. Die Zuständigen kombinierten blitzschnell: Die Russen schicken Geld für irgendeinen Agenten! Also schicken wir ein paar Kriminalbeamte ins Hauptpostamt, und wenn sich jemand als Nikos Nizetas ausgibt: sofort festnehmen!

Drei Kriminalbeamte wurden abkommandiert. Sie verbrachten im Hauptpostamt sechs stressfreie Wochen: Keine Seele fragte nach den Nizetas-Briefen. Endlich, am 24. Mai 1913, knapp vor Dienstschluss, erschien der langersehnte Interessent – und bevor die drei Staatsdiener reagieren konnten, schnappte er sich ein Taxi. Die drei Beamten mit dem nächsten Taxi ihm nach! Es folgte eine wilde Verfolgungsjagd durch das k. u. k. Wien (vielleicht wurde dabei sogar die geltende Höchstgeschwindigkeitsgrenze von 15 km/h überschritten).

Ein Kriminalfilm könnte nicht aufregender sein! Die Verfolger verloren die Spur des Verfolgten – fanden sie aber wieder. Und die Spuren führten ins Hotel Klomser. Dieses Hotel gibt es nicht mehr, das Gebäude schon. Es ist das barocke Palais Batthyány in der Innenstadt (Herrengasse 19 oder Bankgasse 2). Hier wurde der angebliche Herr Nizetas entdeckt, gestellt, hier leistete er sich einen unglaublich primitiven Anfängerfehler – er wurde entlarvt! Diesen Fehler hätte er niemals machen dürfen, er war nämlich die erste Kapazität puncto Spionage, Gegenspionage, Verhörtechnik: Er war Oberst Alfred Redl, Leiter des Evidenzbüros im k. u. k Generalstab – das hieß: Zuständig für Spionage und Spionageabwehr. Ein erfolgreicher Offizier, der fünf Fremdsprachen beherrschte und etliche fremde Spione entlarvt hatte. Dabei spionierte er Jahre lang für Russland!

Warum? Der russische Geheimdienst kam drauf, dass er homosexuell war und erpresste ihn (Homosexualität wurde damals noch mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft). Und jetzt wird’s brenzlig! Neue historische Forschungen ergaben, dass das russische Spionagezentrum von Redls Neigungen nichts gewusst hatte, er soll sich nur aus purer Geldgier den Russen angeboten haben. Manche ziehen die Homosexualität Redls überhaupt in Zweifel. Dagegen spricht, dass sein Partner, Leutnant Horinka, nachher vor Gericht gestellt und verurteilt worden ist. Der Schreiber dieser Zeilen hält es auch für unwahrscheinlich, dass der russische Geheimdienst vom Privatleben seines eigenen Agenten nichts gewusst haben soll.

Aber zurück ins Hotel Klomser! Redl kam drauf, dass er sich verraten hatte. Die Kriminalbeamten informierten ihre Vorgesetzten, und bald erfuhr der Chef des k. u. k. Generalstabes, Franz Conrad von Hötzendorf, dass sein bester, verlässlichster, erfolgreichster Offizier ein fremder Agent war. Ein Skandal! Die Ehre der Uniform muss makellos bleiben! Also: vertuschen. Nicht einmal der Kaiser darf etwas erfahren.

Im Sinne der damaligen Offiziers-Ehrenbegriffe schickte Conrad von Hötzendorf vier Offiziere zu Redl ins Hotel Klomser. Dieser kannte die Spielregeln, er war gerade dabei, Abschiedsbriefe zu schreiben. Die Frage seiner Besucher überraschte ihn nicht: »Haben Sie eine Schusswaffe, Herr Redl?« Man beachte die Feinheiten: keine Rede von »Herr Oberst«, sondern einfach »Herr Redl«. Antwort: »Nein«. – »Sie dürfen um eine Schusswaffe bitten, Herr Redl!« – »Ich bitte um einen Revolver.«

Der schwerkranke Syphilitiker Alfred Redl bekam die todbringende Waffe und erschoss sich im Sinne der ungeschriebenen Gesetze der Ehrbegriffe seiner Zeit.

Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen, dass sich ein »hochverdienter Offizier in einem Anfall von Sinnesverwirrung umgebracht hätte, er litt in der letzten Zeit an außergewöhnlicher Schlaflosigkeit.« Vertuschung gelungen, die Ehre der Uniform gerettet! Oder doch nicht? Eine Kleinigkeit kam dazwischen.

Zwei unterklassige Fußballmannschaften standen einander am 25. Mai in Prag gegenüber. Der große Favorit verlor, weil die Stütze der Abwehr (im Privatberuf Schlosser) nicht erschienen war. Er tauchte erst am nächsten Tag auf und wurde vom Vereinspräsidenten natürlich fürchterlich zusammengeschimpft. Er versuchte sich zu rechtfertigen: Ein paar Uniformierte hatten ihn ohne viel Federlesens abgeholt, er musste eine Wohnungstür aufmachen und in der Wohnung alle Schreibtischläden öffnen. »Es war nämlich eine Kommission aus Wien da«, erklärte er fast weinerlich. Die Wohnung gehörte übrigens, fügte er hinzu, einem General, »der gestern in Wien gestorben ist«. Und das Unglaubliche: »Die Wohnung schaute aus, als gehörte sie einer Dame.«

Der Zorn wich aus des Vereinspräsidenten Gesicht: Wenn diese Geschichte stimmte, wog die Sensation die Heimniederlage auf. Dieser Präsident war nämlich kein anderer als der »rasende Reporter« Egon Erwin Kisch. Und vom plötzlichen Tod eines in Prag stationierten hohen Offiziers in Wien hatte er schon etwas mitbekommen. Kisch ging der Sache nach. Mit Erfolg!

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