Leseprobe
Auszug aus dem Artikel
»Von der Operette zum Musical«
von Astrid Stangl
Die Operette in ihrer Wiener Ausprägung hatte ihre Wurzeln im Wiener Volkstheater und mehr noch in der Pariser »opéra bouffe«, die ab den 1850er-Jahren in ganz Europa und auch jenseits des Atlantiks in Mode kam.
Es begann 1856 mit dem Gastspiel einer französischen Truppe im Wiener Carltheater, man spielte zwei kleine Opern: »Les deux auveugles« und »Les Violoneux«. Sie waren erotisch, spritzig und verrückt, stammten aus der Feder eines gewissen Jacques Offenbach und kamen beim Publikum ausnehmend gut an. Folglich bemühte man sich um weitere Lizenzen der neuen Pariser Stücke, doch versuchten sich auch Wiener Komponisten an ähnlichen Werken. Bereits 1859 wurde eine Opera buffa mit dem klingenden Titel »Flodoardo Wuprahal« von Karl Ferdinand Konradin aufgeführt und geriet bald wieder in Vergessenheit. Im Jahr darauf folgte »Das Pensionat« mit der Musik Franz von Suppès. Dieses Werk gilt heute meist als die erste Wiener Operette. Suppè ließ weitere folgen, wie zum Beispiel »Boccaccio« oder »Die schöne Galathée«, diese werden heute noch gelegentlich gespielt.
Bei einem persönlichen Zusammentreffen mit Jacques Offenbach ermutigte dieser Johann Strauss Sohn, sich an einer Operette zu versuchen. Das erste Werk »Indigo und die vierzig Räuber« wurde zum Misserfolg. Doch mit seinem dritten Operettenversuch »Die Fledermaus«, uraufgeführt 1874 im Theater an der Wien, landete Strauss einen Hit. In Wien brachte sie es während der nächsten Jahre auf 199 Aufführungen, doch wurde das Stück auch exportiert und innerhalb von etwa zehn Jahren um die 300 Mal in Berlin aufgeführt. Noch heute ist ein Silvesterprogramm ohne die sprudelnden Melodien der »Fledermaus« unvorstellbar.
Unerlässlich für einen Operettenerfolg waren die Stars. Marie Geistinger galt zur Zeit der Fledermaus als die Königin der Operette. Sie war die Originalbesetzung der Rosalinde und leitete zusammen mit dem Schauspieler Maximilian Steiner das Theater an der Wien. Sie spielte in weiteren Stücken von Strauss und Suppè sowie auch Carl Millöckers und Carl Zellers, die in jenen Jahren das Publikum mit immer neuen Operetten versorgten. Bekannt sind heute unter anderem Millöckers »Der Bettelstudent« oder Zellers »Der Vogelhändler«. Letzterer näherte sich wieder mehr dem Wiener Volkstheater an und hatte ebenfalls einen Publikumsliebling in der Titelrolle, nämlich Alexander Girardi. Mit der Operette erwuchsen den Darstellern neue Anforderungen. Anspruchsvolle Gesangspartien verlangten nach klassisch ausgebildeten Sängern, allerdings sollten die Dialoge pointiert und mit komischem Talent dargeboten werden. Von nun an begannen sich immer mehr Sänger auf die Kunstform der Operette zu spezialisieren.
Die Wiener Operette wurde nicht nur exportiert. Gleichzeitig kamen in Wien erfolgreiche Stücke von auswärts zur Aufführung. Offenbach war immer noch populär; seine beliebteste Operette »Orpheus in der Unterwelt« (mit dem »Höllengalopp«, besser bekannt als Cancan) ist bis heute Bestandteil der Spielpläne von Opern- und Operettenhäusern. Mittlerweile entstanden in London Operetten, die »Comic Operas« genannt wurden. Heute sind vor allem die Werke von William Schwenck Gilbert und Arthur Sullivan ein Begriff (»Der Mikado«, »Die Piraten von Penzance«). Auch jenseits des Atlantiks in den USA wurden Operetten nach europäischem Vorbild aufgeführt, erfolgreiche Stücke nahm man gerne auf. Mit den Jahren wurden Berlin und Budapest (in engem Austausch mit Wien) immer wichtiger als Uraufführungsorte neuer Werke. Wien war also nicht alleiniges Zentrum der Operette, doch beherrschte die Wiener Operette während der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg weitgehend die Musiktheaterproduktion.
Die erste Blütezeit der Wiener Operette schien jäh beendet, als die drei Komponisten, die den Operettenboom hauptsächlich befeuerten, zeitnah zueinander starben: Franz von Suppè im Jahr 1895 und sowohl Johann Strauss als auch Carl Millöcker 1899. Doch es sollte nicht lange dauern, bis eine weitere Generation von österreichisch-ungarischen Operettenkomponisten nachrückte. Unter ihnen war der aus Ungarn stammende Franz Lehár, sein erster großer Erfolg in Wien war »Der Rastelbinder« nach einem Libretto von Victor Léon. Doch den großen Durchbruch erlebte er mit »Die lustige Witwe« (1905). Bereits zwei Jahre darauf wurde diese für den englischsprachigen Markt adaptiert, sodass die »Merry Widow« den Broadway erobern konnte. Auch »Der Graf von Luxemburg« aus dem Jahr 1909 ist heute noch in den Repertoires der Operettenhäuser zu finden.
Ein weiterer Operettenschöpfer dieser Zeit war Oscar Straus. Er opferte ein »s« in seinem Namen, um nicht mit Mitgliedern der Strauss-Dynastie verwechselt zu werden. 1907 wurde »Ein Walzertraum« im Carltheater uraufgeführt und ist heute, nicht zuletzt durch die Verfilmungen von 1925 und 1969, bekannt. Ein weiteres seiner Werke war »Der tapfere Soldat« (oder auch »Der Praliné-Soldat«), basierend auf dem Roman »Helden« von George Bernard Shaw. Die Operette war in Wien erfolgreich, ist heute jedoch eher in Vergessenheit geraten. Die englische Fassung mit dem Titel »The Chocolate Soldier« sorgte jedoch sowohl in London als auch auf dem Broadway für enormes Aufsehen, was man auch daran erkennt, dass das Werk mehr als 30 Jahre später in Hollywood für den Film adaptiert und sogar für drei Oscars nominiert wurde.
Stücke, die man heute als Wiener Operette einordnen würde, sind nicht immer in Wien, sondern beispielsweise auch in Budapest oder Berlin zur Uraufführung gekommen. Allerorten spezialisierten sich Theater auf diese neue Unterhaltungsform, oder sie wurden sogar neu und speziell zu diesem Zweck gegründet. Gerade die blühende Berliner Unterhaltungslandschaft hatte auch für Komponisten aus den Ländern der Donaumonarchie ihren Reiz.
Selbst während des Ersten Weltkriegs spielte die Wiener Operette eine Rolle auf all diesen Bühnen. Emmerich Kálmán hatte bereits 1910 im Budapester Vígszínház eine Operette auf die Bühne gebracht, die während der Jahre des Ersten Weltkriegs in einer deutschsprachigen Bearbeitung unter dem Titel »Gold gab ich für Eisen« zu sehen war. Das Stück ging in zahlreichen Übersetzungen um die Welt, in jeweils auf das betreffende Land patriotisch zugeschnittenen Versionen. In die Zeit des Ersten Weltkriegs fällt auch die Premiere der heute vielleicht meistgespielten Operette Emmerich Kálmáns, nämlich »Die Csárdásfürstin«. Sie wurde 1915 im einige Jahre zuvor neu errichteten Johann-Strauß-Theater auf der Wieden uraufgeführt. In Folge trat sie unmittelbar ihre Reise auf die Bühnen der verschiedenen Länder Europas und über den Atlantik an.
Aus der Gegenrichtung kamen Einflüsse neu entstehender Musikstile, wie etwa des Jazz aus den USA. Diese Entwicklung hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg ihren Anfang genommen und setzte sich in der Zwischenkriegszeit fort. Bruno Granichstaedtens »Der Orlow« wurde 1925 im Theater an der Wien uraufgeführt. Die Handlung war in New York angesiedelt, die Musik stark inspiriert von moderner Tanz- und Unterhaltungsmusik. Ein weiterer Vertreter war Leo Fall mit äußerst populären Werken wie »Die Rose von Stambul«, »Die Dollarprinzessin« oder »Madame Pompadour«, in denen nicht nur Walzer, sondern auch Jazz und Foxtrott zu hören waren. Paul Abraham schuf Werke wie »Die Blume von Hawaii«, »Viktoria und ihr Husar« oder »Ball im Savoy«. Sie wurden zwar nicht in Wien uraufgeführt – Abraham war Direktor des Budapester Operettentheaters – sie liefen hier jedoch mit Erfolg und sind kennzeichnend für den frischen Wind, der ein »Muffigwerden« der Gattung der Operette zu verhindern wusste.
In den 1930er-Jahren befand sich der Tonfilm in Aufwind, die Tonfilmoperette wurde geboren.
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