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»Wien – Stadt der Selbstmörder?«

von Johann Szegő

Es wird oft behauptet, es gab und gibt nirgends so viele Selbstmorde wie in Wien. Stimmt das? Was ist eigentlich Selbstmord? Ist eine abgelehnte lebensrettende Operation Selbstmord oder nicht? Ein mit tödlicher Konsequenz geführter Hungerstreik?

Jedes Land hat das Recht, den Selbstmord nach eigenem Gutdünken zu definieren, die Statistiken sind also mit Vorsicht zu genießen. Außerdem pflegen Diktaturen, ihre hohen Selbstmordzahlen nicht anzugeben.

Ohne wissenschaftliche Definitionen: Unter Selbstmord versteht man meistens, wenn man sich selbst erhängt, erschießt, vergiftet, in den Tod stürzt – also eine aktive Tat setzt. Und in diesem Punkt soll unser Wien weltweit an der Spitze stehen. Beweise dafür?

Die »schöne Leich’« gehört zu unseren wichtigsten Institutionen. Wie oft kommt der Begriff »Tod« in den Wienerliedern vor? Denken Sie zum Beispiel an den Text von »Der Tod, das muss ein Wiener sein« von Georg Kreisler. Es kann auch kein Zufall sein, dass Seelenvater Freud gerade hier seine bahnbrechende Tätigkeit entfaltet hat. Freud prägte 1920 den Begriff »Todes-trieb«, der sich nicht nur auf Fremde beziehen kann (Destruktionstrieb), sondern auch auf die eigene Person (Autoaggression): ein Gegenpol des Lebenstriebes. Vor Freud widmete sich der in Wien tätige große steirische Arzt Leopold Auenbrugger bereits 1783 diesem Thema. »Von der stillen Wuth oder dem Triebe zum Selbstmorde als einer wirklichen Krankheit« lautete der Titel seines Buches. Der Wiener Literat Jean Améry (1912 – 1978, Selbstmord) verherrlichte sogar den Selbstmord: »Im Augenblick, wo ein Mensch sich sagt, er könne das Leben hinwerfen, wird er schon frei, wenngleich auf eine ungeheuerliche Weise.«

Was spricht gegen die These, in Wien die Selbstmordhauptstadt der Welt zu sehen? Gibt es Gegenargumente? Mehr als hundert Jahre vor Auenbrugger erschienen Bücher über den Selbstmord – nicht in Wien, sondern in Jena. Romeo und Julia lebten und starben nicht in Wien, sondern entsprangen William Shakespeares Phantasie, in dessen Werken es übrigens 52 Selbstmorde gibt – ohne irgendeinen Wien-Bezug. Hat nur Améry, der Wiener, den Selbstmord verherrlicht? Nein! Schon Jahrzehnte vor ihm schrieb der aus Sachsen-Anhalt stammende Philosoph Friedrich Nietzsche in seinem Hauptwerk »Also sprach Zarathustra«: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.«

Kommen in der Geschichte Wiens mehr Selbstmorde vor als sonst irgendwo? Jein. 1421 wurde in Wien die Judenstadt aufgelöst. In der Synagoge kam es zum Massenselbstmord, um dem Scheiterhaufen zu entkommen. Aber rund 200 Jahre früher gab es einen ähnlichen Massenselbstmord: Die besiegten Katharer in Okzitanien (heute Südfrankreich) brachten sich aus Angst vor der Folter um.

Der erste namentlich bekannte Selbstmörder in Wien war der hohe Beamte Hans Waldner, der von Kaiser Maximilian  I. 1501 des Hochverrates bezichtigt worden war. Auch Waldner fürchtete die Folter und zog den Freitod vor. 

Waldner wusste nicht, dass er Selbstmord begeht. Dieses Wort ist erst seit 1519 nachweisbar, und die zweite Silbe »mord« suggeriert, dass hier ein schweres Verbrechen geschehen ist. Diese Ansicht finden wir auch im Strafgesetzbuch Maria Theresias (1770): Der Körper eines Selbstmörders sollte »gleich einem unvernünftigen Vieh vertilgt« werden. Selbst der misslungene Selbstmordversuch galt bis 1850 als Übertretung!

Im selben Jahr betrug die Selbstmordrate (Anzahl der Selbstmorde pro Jahr und pro 100 000 Einwohner) in Österreich drei. Sie kletterte langsam, aber sicher hinauf und stieg zwischen den beiden Weltkriegen sogar auf 44! Extrem hoch war diese Rate bei den Offizieren der k. u. k. Armee. Sie betrug im Durchschnitt 125,3, aber der Selbstmord des Kronprinzen Rudolf 1889 muss wie ein Katalysator gewirkt haben: In diesem Jahr betrug die Selbstmordrate 150! Das lag zum Teil an einem extrem übertriebenen Ehrbegriff, so kosteten Spielschulden viele Soldatenleben. Bei den Offizieren ausländischer Armeen finden wir »nur« 20 bis 68 Selbstmorde. 

Der Börsenkrach 1873 und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 führten ebenfalls zu vermehrten Suizidfällen. Es ist auch kein Zufall, dass die selbstmordreichsten Jahre 1938 und 1945 gewesen sind: Anfang und Ende der NS-Diktatur.

Wahrscheinlich hat Wiens Selbstmordrekordstadt-Ruf einen besonderen Grund: die hohe Anzahl der prominenten Selbstmörder (egal, ob sie sich in Wien oder anderswo umgebracht haben). Warum all diese Menschen den Tod gewählt haben? Einige aus Verzweiflung (der geniale jüdische Schriftsteller Stefan Zweig 1942, aber auch der Nazischriftsteller Josef Weinheber 1945), andere wegen Krankheit (Zweig-Kollege Adalbert Stifter, der Kabarettist Carl Merz oder Opernarchitekt Eduard van der Nüll).

Ignorieren wir nicht die seelischen Krankheiten: die Selbstmörder Peter Gürtler (Chef des Hotel Sacher) oder Jaromir Mundy (Gründer der Wiener Rettungsgesellschaft) waren schwer depressiv. Die Politikerin Marianne Pollak überwand den Verlust ihres geliebten Ehemannes nicht, der Publizist Heinz Brantl jenen der geliebten Ehefrau. In der »guten alten« Zeit führte auch der Verlust des Vertrauens des Kaisers zum Suizid, siehe dessen Finanzminister Karl Ludwig von Bruck. Mit vielen weiteren berühmten Namen könnte gedient werden, aus welchem Grund auch immer ihre Träger den Tod gewählt haben: der Schriftsteller Ferdinand von Saar, Bildhauer Gustav Ambrosi, die Maler Carl Moll und Richard Gerstl, die Architekten Oskar Marmorek und Karl Schwanzer, der Epoche machende Physiker Ludwig Boltzmann, Unterweltler Jack Unterweger oder politisch motivierte Kriminelle wie der rechtsradikale Briefbombenattentäter Franz Fuchs und der linksradikale Palmers-Entführer Thomas Gratt.

Waren diese österreichischen Selbstmörder überwiegend Wiener? Es heißt ja oft, die Großstädter sind gefährdeter als die Landbevölkerung. Im 19. Jahrhundert stimmte diese These, später nicht mehr. Und die Statistiken helfen uns nicht: Der Schriftsteller Jean Améry war gebürtiger Wiener, aber er brachte sich in Salzburg um – man findet ihn also in der Salzburger Suizidstatistik.

Im Jahre 2016 stand Österreich mit der Rate von 15,6 an der 24. Stelle der internationalen Selbstmordstatistik. Mit 31,9 führte Litauen diese traurige Liste an. Unter den ersten 23 finden wir acht ehemalige Teilstaaten der Sowjetunion nebst vier anderen Ländern des früheren kommunistischen Machtbereiches, aber auch Belgien, Frankreich, Japan, Südkorea.

Österreich mag nach dem Ersten Weltkrieg zu den in Bezug auf Selbstmord »gefährdetsten« Staaten gehört haben, aber seit mindestens 30 Jahren ist dies nicht mehr der Fall. Liegt das an den Präventivmaßnahmen?

1948 organisierte die Caritas die »Lebensmüden-fürsorge«, um verhinderte Selbstmörder und die Familien von erfolgreichen Selbstmördern zu betreuen. Daraus entstand 1975 unter dem Vorsitz von Prof. Erwin Ringel das Kriseninterventionszentrum. Ein schönes Beispiel für die Zusammenarbeit von Bund und Land, Sozialpartnern und Kirche! Von Ringel stammt auch eine interessante Definition aus dem Jahr 1953: »Bei einem wirklich religiösen Menschen ist der Selbstmord kaum möglich. So groß ist der Schutz, den die Religion gewähren kann.«

Klingt gut, es gibt aber Gegenbeispiele. Der große Literat Ferdinand Raimund oder der Kurzzeit-Bundeskanzler Walter Breisky waren sicher gläubige Christen, genauso wie die 1938 in den Tod gegangenen Politiker Emil Fey und Odo Neustädter-Stürmer oder ein Schriftsteller der Biedermeierzeit: Benediktinerpater Leopold Enk von der Burg. Als Angehöriger des Klerus war Enk von der Burg die große Ausnahme, und es ist eine Tatsache, dass der Prozentsatz bei den Katholiken niedriger ist als bei den Angehörigen anderer Religionen.

Kehren wir aber zu Sigmund Freud zurück: Es ist heute fast ein Dogma geworden, dass er nur in diesem morbiden Wien mit den selbstmordgefährdeten Einwohnern zu seinen Weisheiten gelangen konnte. Nirgends haben sich Lebensfreude und Pessimismus, Weltoffenheit und Intoleranz, Erotik und Prüderie so gepaart wie hier! Klingt gut und gescheit! Beweisen kann man’s nicht. Eros und Prüderie, Weltoffenheit und Spießertum wird es in Berlin und Budapest, in Paris und Prag auch gegeben haben. Zur Zeit Freuds war die Wiener Medizin Weltspitze! Chirurgen, Hautärzte, Internisten, Augenärzte, Gynäkologen etc. revolutionierten ihre Fachgebiete – dasselbe geschah in der Psychiatrie. Ohne, dass die Menschen in dieser Hinsicht anfälliger gewesen wären als anderswo.

Kurz und bündig: Wien war in den vergangenen anderthalb Jahrhunderten zweifellos eine selbstmordreiche Stadt – aber sicher nicht das Mekka der Selbstmörder!

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