Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Worauf freut sich der Wiener nach dem Urlaub?«

von Regina Engelmann

Auf Hochquellwasser und Ankerbrot – so lautete ab den 1930er-Jahren der Werbeslogan von Wiens größter Brotfabrik. Der Anker samt den Initialen (HFM) der Firmengründer Heinrich und Fritz Mendl war damals auf jeden Brotlaib geprägt.

Am 1. Juli 1891 übernahm das Wiener Brüderpaar Heinrich (1855 – 1917) und Fritz Mendl (1864 – 1929) die insolvente Bäckerei von Emanuel Adler am Keplerplatz in Wien Favoriten. Davor waren die beiden als »Commissionswarenhändler« tätig, hatten also keine Erfahrung im Bäckergewerbe, aber eine gute Nase für zukünftige Geschäfte. Damals verzeichnete Wien ein rasantes Bevölkerungswachstum, Brot und Gebäck wurde von rund 300 Kleinbäckern erzeugt – Zeit also, die Broterzeugung auf gänzlich neue Beine zu stellen und die Bäckerei in eine Brotfabrik umzuwandeln, die in der Lage sein sollte, die ganze Stadt zu versorgen. Die dafür notwendige Produktionsmenge erzielte man durch den Einsatz neuer Technologien. Eine Teigknetmaschine bearbeitete beispielsweise innerhalb von zwölf Minuten dieselbe Menge von Teig, für die zuvor zwei Arbeiter jeweils 45 Minuten gebraucht hatten, und konnte darüber hinaus von ungelernten Kräften bedient werden. Auch moderne Dampfbacköfen kamen zum Einsatz. Stark reduziert wurde die Anzahl von Brottypen: Anstelle von 60 Arten stellte man anfangs nur eine einzige Sorte Schwarzbrot her. Die zweite Voraussetzung für den Erfolg einer Brotfabrik war das Vertriebssystem. Hatten Bäcker davor ihre Waren direkt aus der Backstube oder von nahegelegenen Standorten verkauft, war es bei einer zentralen Fabrikserzeugung notwendig, von einer einzigen Produktionsstätte aus das gesamte Stadtgebiet beliefern zu können. Dazu bedurfte es nicht nur eines großen Fuhrparks, sondern auch einer ausgeklügelten Logistik zur zeitsparenden Beladung der Wägen: in der Verladehalle der Fabrik, dem »Brotbahnhof«, wurde auf Stellagen individuell für jedes Fuhrwerk die auszuliefernde Menge vorbereitet und vom Brotführer dreimal täglich zu fixen Uhrzeiten abgeholt. Anschließend fuhr er von Kunde zu Kunde auf einer immer gleichen Route, sodass die Pferde den Weg bald selbst kannten und, während der Brotführer die Abrechnung machte und die nächsten Bestellungen aufnahm, bereits zur nächsten Adresse weiter trotteten. Der Auslieferung kam auch die Lage der Fabrik auf einer Erhebung zupass: Der Weg mit den beladenen Wägen in die Stadt führte immer bergab. Außerdem stand der Brotfabrik stets günstiger Hafer zur Verpflegung der Tiere zur Verfügung, sodass bis in die 1960er-Jahre noch Pferdefuhrwerke im Einsatz waren. Die Wägen selbst hatten übrigens Lüftungsschlitze, die zur Temperierung des Brotes dienten, aber auch den werbewirksamen Nebeneffekt hatten, dass sich der Geruch des frischen Brotes so in den Straßen verbreitete. Die vermutlich erste Ankerbrotfiliale wurde 1894 im 5. Bezirk gegründet. Neben den eigenen Zweigstellen verkauften auch Vertriebspartner Ankerbrot, schon vor dem Ersten Weltkrieg waren Ankerprodukte – mittlerweile auch viele Sorten Weißgebäck, eine Art Grissini namens »Kra-Krie« sowie Grieß und andere Getreidearten – in 6.000 Geschäften erhältlich.

Im Jahr 1901 wurde auf Wunsch des Kaisers erstmals Ankerbrot-Gebäck am Hofball serviert. 1907 erfolgte die offizielle Eintragung als k. u. k. Hoflieferant. Ab 1914 kamen unruhige Zeiten. Der Erste Weltkrieg stürzte die Firma in eine große Krise. Obwohl die Mendls vorausschauend alles erhältliche Getreide gekauft hatten, konnte die Einschränkung der Produktion im Kriegsverlauf nicht verhindert werden. Ab 1915 wurde kein Kleingebäck mehr hergestellt, ab 1917 nur mehr tagsüber gebacken. Auch die 1920er-Jahre waren für das Unternehmen turbulent: Der Generaldirektor der Fabrik, Arthur Fried (er war der Schwager von Fritz Mendl), war auf Grundlage einer 1924 verfügten staatlichen Brotpreisregulierung der Preistreiberei und Bereicherung angeklagt. Eine lange Haftstrafe konnte zwar auf dem Instanzenweg abgewendet werden, nicht jedoch eine Geldstrafe von 10 Millionen Schilling – ein schwerer Schlag für die Finanzen, aber noch viel mehr für die Reputation der Firma und deren Eigentümer Fritz Mendl. Das Urteil befeuerte zudem antisemitische Anfeindungen, denen Mendl als Jude zunehmend ausgesetzt war. Im Bürgerkrieg des Jahres 1934 wiederum war die Fabrik Schauplatz eines Aufstandes, bei dem ein Arbeiter sein Leben verlor. Zahlreiche weitere wurden nach dem Ende der Kämpfe verhaftet. Dennoch konnte sich das Unternehmen in der Zwischenkriegszeit als zweitgrößte Brotfabrik Europas behaupten. Eine Werbebroschüre der 1930er-Jahre bescheinigt, dass jeder zweite Wiener Ankerbrot aß und die Bäckerei täglich über 400 000 Stück Weißgebäck erzeugte, die übereinander geschichtet die Höhe des Mount Everest übertrafen. Nach dem Tod von Fritz Mendl stand ab 1929 das Unternehmen im Besitz der Kinder der Gründer. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft waren sie 1938 gezwungen, ihre Firmenanteile unter dem Wert zu verkaufen, die Fabrik wurde unter die öffentliche Verwaltung der nationalsozialistischen Behörden gestellt. 1944 und 1945 befand sich am Firmengelände ein Zwangsarbeiterlager für ungarische Juden. Die Familienvilla auf der Hohen Warte (Wallmodengasse 11) gelangte an Otto Wächter (1901 – 1949). Seine Lebensgeschichte als Beteiligter am Juli-Putsch 1934, Nazi-Funktionär und Mitwirkender an Massendeportationen in Lemberg wurde von Philippe Sands im Buch »Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht« dokumentiert.

Nach 1945 erhielt die Familie die Firma und die (devastierte) Villa zurück. Die Villa steht nach wie vor im Familienbesitz: Heute bewohnt sie der Urenkel von Fritz, der Autor Thomas Mendl. Die schwer beschädigte Firma wurde zu Kriegsende von der hungernden Bevölkerung geplündert, sowjetische Getreidelieferungen ermöglichten jedoch schon bald die Wiederaufnahme des Betriebs. Der Aufschwung in den 1950er-Jahren war nicht zuletzt erfolgreichen Werbekampagnen zu verdanken: Fotos zeigen Romy und Magda Schneider beim Rollen von Salzstangerln in der Ankerbrotfabrik, in Filmen setzte man auf »Productplacement« bzw. belieferte Filmcrews mit Backwaren. Bei Messeauftritten präsentierte sich die Firma mit eleganten Verkaufsständen, und die Mitarbeiterinnen erhielten »Benimmregeln«: Sie waren angehalten, ihre Haare mit einem weißen Kopftuch »in gefälliger Art zu bedecken«, nur angenehme Gesprächsthemen zu wählen und entweder Hochdeutsch oder gar nicht zu sprechen, denn die Verwendung des Dialekts galt als unschön. 1969 trennte sich die Familie von ihrem Unternehmen. Eine Reihe von Eigentümern bestimmten mehr oder weniger erfolgreich das Schicksal von Ankerbrot, bevor es 2013 an die Austro Holding von Erhard F. Grossnigg überging. Einen Wandel erlebte das historische Betriebsgelände der Fabrik, das im Wesentlichen in vier verschiedenen Bauphasen zwischen 1893 und 1927 am heutigen Standort in der Absbergasse in Wien 10 entstanden ist. Das erste Gebäude stammte vom Theophil Hansen-Schüler Friedrich Schön. In zahlreichen Erweiterungsbauten befanden sich die hellen und gut belüfteten Produktionsbereiche, Getreidespeicher, Verladehallen (die große Verladehalle aus 1925 hatte 4 000 Quadratmeter Größe und war mit 50 Metern Spannweite damals die größte stützenfreie Halle Europas), aber auch Garderoben, Speisesäle und Sanitätszimmer für die Arbeiter, die damit unter wesentlich besseren Voraussetzungen arbeiten konnten als andere Bäckereiangestellte.

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