Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Herausforderungen für das Rote Wien«

von Marius Pasetti

Nach dem Ende der Monarchie war die Situation im Nachfolgestaat »Deutschösterreich« desaströs,
und Wien hatte eigene Wege zu gehen.

Global betrachtet verlor Europa nach dem Ersten Weltkrieg seine Bedeutung am Weltmarkt, es steuerte auf eine Wirtschaftskrise zu. Für Österreich als Verlierermacht ergab sich eine Doppelbelastung. Vollkommen neue wirtschaftliche Verhältnisse kamen nun auf einen Staat zu, dessen Einwohnerzahl von mehr als 51 Millionen auf etwa 6,5 Millionen geschrumpft war. Die Bedeutung Wiens nahm damit ebenfalls ab, denn die Stadt war nun nicht mehr wirtschaftliches Zentrum eines Riesenreiches. Diesem Umstand wurde zunächst nicht unbedingt erfolglos entgegengewirkt. Die einst vorherrschende Position der Residenzstadt vermochte durch Maßnahmen der österreichischen Wirtschaftspolitik einigermaßen erhalten zu bleiben.

Im Bereich der Agrarwirtschaft ergaben sich Engpässe durch den Wegfall der Kronländer Ungarn oder Galizien. Von der bisherigen Gepflogenheit, landwirtschaftliche Produkte von der transleithanischen Reichshälfte in die cisleithanische zu importieren und im Gegenzug von dort industrielle Waren zu bekommen, musste man Abschied nehmen. Zudem praktizierten die nachfolgenden Nationalstaaten eine konsequente Abgrenzung zum neuen Österreich.

Die katastrophale Lage auf dem landwirtschaftlichen Sektor hatte sich bereits früh im Rückgang der Ernte im Jahre 1918 gegenüber dem letzten Jahr vor dem Krieg bemerkbar gemacht. Für Grundnahrungsmittel wie Weizen, Roggen und Kartoffeln betrug dieser um die 40 Prozent. An Fleisch konnte man lediglich ein Drittel, an Speisefett ein Zwanzigstel und bei Zucker ein Vierzehntel dessen aufbringen, was zum Überleben notwendig war.

Neben der katastrophalen Ernährungslage führte der Mangel bzw. das schlichte Nichtvorhandensein an Heizmaterial (Hausbrandkohle war zur Gänze nicht mehr verfügbar) zu drastischen Maßnahmen. Es kam zu Streiks und Plünderungen. In Wien blieb der unterversorgten Bevölkerung nichts anderes übrig, als in die grünen und bewaldeten Gebiete der Stadt zu ziehen und sich dort illegal am Holzbestand zu bedienen.

Zudem plagten als Last des Ersten Weltkrieges und auch der Zeit davor verheerende Krankheiten die Bevölkerung. Die Spanische Grippe hielt in Wien im September des letzten Kriegsjahres Einzug. Etwa 4 000 Wiener vor allem aus dem jüngeren Teil der Bevölkerung starben an der Pandemie, und es traf zumeist Unterernährte und unter der Kälte Leidende. Eine genaue, wahrscheinlich wesentlich höhere Anzahl an Todesopfern lässt sich nicht belegen, da eine Meldepflicht damals natürlich nicht existierte.

Und die »Wiener Krankheit« (»Morbus Viennensis«), die Tuberkulose, war im Wien nach dem Ersten Weltkrieg ebenfalls von hartnäckiger Beständigkeit. Als »Volksseuche des Proletariats« erfasste sie seit Beginn der Industrialisierung vornehmlich die Arbeiterbezirke der Großstadt. Im Roten Wien gelang es, fünf neue Tuberkulose-Fürsorgestellen einzurichten, eine Verbesserung der Hygiene im Rahmen der sozialen Wohnbauprojekte wurde erreicht. Über die Herausforderung, eine möglichst rasche und effektive Verbesserung im Gesundheitswesen zu erreichen, geben die Artikel über die Infrastruktur und den sozialen Wohnbau in dieser Ausgabe genauere Auskunft.

Das neue Österreich war also von den ehemaligen Kronländern, die ja in der Monarchie einen großen Wirtschaftsfaktor dargestellt hatten, mehr oder minder isoliert. Für die Hauptstadt ergab sich eine gleichsam doppelte Abgrenzung. Wien wurde von Seiten der österreichischen Provinzen zum »Wasserkopf« der Republik degradiert: durch die Abwanderung von etwa 300 000 Bewohnern, hauptsächlich Beamte und Kriegsflüchtlinge, um einiges kleiner als in der Monarchie, jedoch zu groß für den Kleinstaat Deutschösterreich.

Eine weitere Last des Ersten Weltkrieges war selbstverständlich die Inflation. Die Preise im Einzelhandel stiegen bis zum Ende des Jahres 1918 auf das siebeneinhalbfache gegenüber der Zeit vor dem Krieg, und der Trend setzte sich fort: Im Oktober des folgenden Jahres war bereits das Vierzehnfache erreicht! Ungewiss war dabei freilich die Verfügbarkeit der Waren, tagelanges Schlangenstehen erwies sich häufig als vergebliche Mühe.

Der Schwarzmarkt blühte und die Preise schossen nach dem banalen Prinzip »Angebot und Nachfrage« in die Höhe. Betrug der Preis für ein Kilogramm Mehl im Jänner 1918 1 Krone und 20 Heller, so war es jetzt auf dem Schwarzmarkt um 20 Kronen zu kriegen.

Die Arbeiterzeitung notierte im Juni 1922, dass »in der ganzen Stadt in den letzten Tagen die Preise aller Nahrungsmittel, aller lebenswichtiger Gebrauchsgegenstände gerade von Stunde zu Stunde hinaufnummeriert« wurden und keiner mehr sagen kann, »was ein Kilogramm Zucker, was ein Kilogramm Fleisch kostet, da die Preise jeden Tag um hundert Kronen emporgehoben werden«. In dem Artikel wollte der Autor die Tat einer wegen Preistreiberei verurteilten Bettlerin relativieren, weil sie Zündhölzer, die sie um 18 Kronen erworben hatte, um 40 Kronen weiterverkaufte.

Spekulantentum spielte sich selbstverständlich und besonders in höheren und ernster zu nehmenden Sphären ab. Während in Wien Tausende aus der Mittelschicht von Armut und sogar Obdachlosigkeit bedroht waren, profitierte eine neue Oberschicht vom stetigen Absinken der Krone. Sie verlor innerhalb von nur einem Jahr neun Zehntel ihres Wertes, wie der Historiker Wolfgang Maderthaner feststellt. Durch vermehrte Produktion von Papiergeld wollte man dem entgegenwirken, doch die Entwertung der Währung gipfelte in einer Hyperinflation. Der Höhepunkt wurde im August 1922 mit einer Inflationsrate von 129 Prozent erreicht!

Doch es gab eben auch jene Profiteure, die sich dank ihrer Spekulationsgewinne ein Leben in Saus und Braus gönnen konnten. Der vielseitige Autor Felix Dörmann nennt sie in seinem 1925 erschienen Roman »Jazz« die »Hyänen und Haie der Inflation« und beschreibt ihr Betätigungsfeld folgendermaßen: »Eine Tanzbar und ein Nachtlokal nach dem anderen schießt empor, eine Bankfiliale nach der anderen […] Wien taumelt im Milliardenrausch! Und merkt nicht, daß es vom Volksvermögen lebt.«

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