Leseprobe

Auszug aus dem Artikel

»Berichte aus dem Sündenbabel«

von Christa Bauer

Entgegen der vorherrschenden Meinung war in der Zeit des Barock
nicht Paris das Sündenbabel Europas, sondern Wien. Davon zeugen
viele schriftliche Berichte von Wien-Besuchern.

So stellte der in der zweiten Hälfte des 17. Jh. hier lebende Merkantilist Philip Wilhelm von Hörnigk (1630 – 1714) in seinem 1684 erschienenen Werk »Österreich über Alles, wenn es nur will« in Wien »die totale Lüsternheit und die Sehnsucht nach fröhlichem Leben« fest.
Und damit hatte er völlig Recht. Es blühte in der Stadt nicht nur die Prostitution, auch in den Häusern des Bürgertums und des Adels ging es hoch her, wobei man seine Triebe selten im eigenen Ehebett auslebte: Männer mit einer oder mehreren Geliebten waren eher die Regel als die Ausnahme.
Immerhin herrschte Gleichberechtigung, denn es wurden auch den Ehefrauen Liebhaber zugestanden, wie Lady Mary Montague (1689 – 1762), eine englische Diplomatengattin und Schriftstellerin, die 1716 in Wien weilte, erstaunt in einem ihrer Briefe schreibt: »Das verwirrende Wort ›guter Ruf‹ hat hier eine ganz andere Bedeutung als in London. Einen Liebhaber zu nehmen, ist weit davon entfernt, den guten Ruf zu verlieren – es trägt erst recht dazu bei, ihn zu bekommen, da die Damen weit mehr nach dem Rang ihrer Liebhaber als dem ihrer Gatten geachtet werden. Mit einem Wort, es ist ein eingeführter Brauch für jede Dame, zwei Gatten zu haben: Einen, der den Namen gibt und den anderen, der die Pflichten erfüllt.« Mary führt in ihrem Brief aus, dass es ein »regelrechter Affront wäre und sehr übel genommen würde, wenn man eine Dame von Stand zum Dinner einlüde, ohne gleichzeitig ihre beiden Trabanten, den Liebhaber und den Gatten, einzuladen, zwischen welchen sie immer in Gala wichtigtuerisch sitzt.« Tatsächlich dauerten diese Verhältnisse, von Mary »Nebenehen« genannt, mitunter zwanzig Jahre oder länger und endeten nicht selten mit dem Ruin des Liebhabers, denn seine »Zweitfrau« erwartete sich dieselben finanziellen Zuwendungen wie die Ehefrau. Es gab sogar oft Verträge, in denen zwischen der Frau und ihrem Liebhaber eine Art Aussteuer und auch eine Pension festgelegt wurde, die der Frau selbst dann zustand, wenn der Mann sie betrog. Diese Frauen galten keineswegs als liederlich, sondern als besonders geschickt.
Mary selbst wurde bereits zwei Wochen nach ihrem Eintreffen in Wien gefragt, warum sie denn noch keinen Liebhaber hätte. Sie fand eine vermeintlich geschickte Ausrede für ihre »anscheinende Dummheit«: Ihr Mann würde als Diplomat sicher bald wieder abberufen – also würde es sich gar nicht auszahlen, sich für diese kurze Zeit einen Liebhaber zuzulegen. Ein junger Graf meinte jedoch, dass sie selbst einen kurzen Aufenthalt nützen sollte, um »sich in eine kleine Herzensangelegenheit einzulassen.« Er empfand Marys Zurückweisung zwar als Demütigung, erklärte sich aber bereit, für würdigen Ersatz zu sorgen. Mary sollte ihn lediglich wissen lassen, »wen von uns Sie am meisten lieben und ich will mich verpflichten, die Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit zu ordnen.« Er war peinlich berührt, als Mary sogar dieses großzügige Angebot freundlich ablehnte. Der wohlmeinende Herr Graf passte perfekt zu Marys genereller Meinung über Männer: »Männliche Dummheit bereitet mir größtes Vergnügen. Gott sei Dank ist das eine schier unerschöpfliche Quelle der Unterhaltung.«
Die Liederlichkeit fand auch in den Theatern der Stadt ihren Niederschlag. So schreibt Mary nach einem Besuch des Kärntnertortheaters, in dem eine Adaption des Stückes »Amphytrion« des Theaterdirektors und Schauspielers Joseph Stranitzky gegeben wurde: »Ich kann dem Dichter nicht verzeihen, dass er sich die Freiheit nahm, sein Stück nicht nur mit unanständigen Ausdrücken zu spicken, sondern sogar mit so gemeinen Worten, wie sie unser Mob kaum von einem Marktschreier dulden würde, und die zwei Sosias (Amphytrions Diener) ließen gar ganz gemütlich ihre Hosen gerade den Logen gegenüber herab, die mit Leuten allerhöchsten Ranges besetzt waren, welche mit ihrer Unterhaltung sehr zufrieden schienen und mir versicherten, es wäre ein sehr berühmtes Stück.«

Johann Kaspar Riesbeck (1754 – 1786) war ein deutscher Schriftsteller, der seine Heimatstadt Höchst am Main 1775 verlassen musste, nachdem er einen Domherrn attackiert hatte, der ihm bei einem Ball seine Begleiterin ausspannen wollte. Riesbeck begann mit ausgedehnten Reisen, von denen eine ihn auch nach Wien führte. Hier lebte er von 1775 bis 1777 und arbeitete als Schauspieler am Kärntnertortheater. 1783 erschien sein Buch »Briefe eines Reisenden Franzosen über Deutschland«, in dem er auch seine Wiener Jahre beschreibt. Schon das Verhalten seiner ersten Zimmerwirtin dürfte ihn einigermaßen überrascht haben, denn die Dame bot ihm nicht nur ein Zimmer, sondern auch gleich ihre Tochter an. Er schreibt dazu: »Ich merkte wohl, daß die Dienste des schönen Fräuleins schon im Preis des Zimmers angeschlagen waren und daß man noch verschiedene Nebengefälle von mir erwartete.« Kein Wunder, dass Riesbeck nach nur drei Tagen eine andere Unterkunft bezog. Riesbeck mokierte sich über die bigotte Kaiserin Maria Theresia, die, wie er meint, »eine schwache Seite hat, die den Pfaffen, welche die Schwäche der Regenten immer am besten zu benutzen wissen, freies Spiel gestattet.« Er beschreibt in seinem Buch die Keuschheitskommission, die Maria Theresia wieder hatte aufleben lassen, und deren völlige Erfolglosigkeit: »Sie würde verzweifeln, wenn sie nur den Teil der Hörner sehen könnte, welche die hiesigen Männer unter ihren Perücken und Frisuren herumtragen.« Er hob hervor, dass gerade Maria Theresia zu den treuesten Ehefrauen überhaupt zählte und ihr nie im Traum eingefallen wäre, ihren Gemahl, Kaiser Franz I. Stephan, zu betrügen. Dieser hielt es mit der ehelichen Treue seinerseits aber nicht so genau. Er hatte zahlreiche Affären, was die eifersüchtige Maria Theresia nicht amüsierte. Dennoch soll sie auf so manche »Unmoral« angeblich gelassen reagiert haben: Eine Schauspielerin prahlte nach einem Auftritt in einer Hosenrolle stolz: »Ich war so überzeugend, dass mich das halbe Theater tatsächlich für einen Mann hielt!« Daraufhin Maria Theresia trocken: »Dafür weiß die andere Hälfte sicher, dass sie kein Mann ist.«

1766 kam der angeblich größte Liebhaber aller Zeiten nach Wien: Giacomo Casanova (1725 – 1798), der in seinen Memoiren 116 Frauen namentlich erwähnt, mit denen er erotische Abenteuer hatte. Casanova besuchte Wien mehrere Male und machte bei der hiesigen Damenwelt Furore. Er betörte sie nicht nur mit seinem Charme, sondern auch mit seinem Äußeren: Er war rund 1,90 Meter groß, also ein Hüne für die damalige Zeit, und äußerst durchtrainiert, womit er unter den häufig etwas »barocken« Wiener Kavalieren ebenfalls auffiel.
Casanova machte in Wien bald Bekanntschaft mit der Keuschheitskommission, die ihn naturgemäß unglaublich aufregte: »In Wien war alles schön. Viel Geld und viel Luxus. Doch wer der Venus gerne opferte, der hatte zu dieser Zeit einen unangenehmen Zwang zu erdulden. Nichtswürdige Bösewichter, Keuschheitscommissarien genannt, waren die unbarmherzigen Henkersknechte aller hübschen Mädchen. Der an allen Tugenden so reichen Kaiserin fehlte einzig und alleine die der Toleranz, wenn es sich um eine nicht erlaubte Liebe zwischen einer Mannsperson und einem Frauenzimmer handelte. Die Unzucht schien ihr unverzeihlich, gegen diese also ward ihr ganzer Eifer gerichtet, gegen diese kam er zum Ausbruch.« Casanova nannte Maria Theresia unter anderem »die barbarische Kaiserin« und schreibt, dass Wien »überladen von fünfhundert Beamten der Keuschheitskommission gewesen sei«.

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Titelseite der vierten Ausgabe mit dem Stephansdom
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